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Geschichte
Hans, der Hirte

Das Almvieh ist sein größtes Glück, das Viehüten seine Lebensberufung


Das Almvieh ist sein größtes Glück. Es hat ihn vieles gelehrt – auch das Viehhüten.


Der letzte Morgennebel zieht an den Moarer Weißen vorbei, weiter über die Hochalmwiesen und die begrünten, felsdurchsetzten Gipfel des Lazzacher Tals. Håns ist seit halb sechs Uhr wach und hat gerade gefrühstückt. Wie jeden Morgen schnürt er seine Bergschuhe, bindet den blauen Schurz um, greift den Stock und schultert den Rucksack mit Fernglas, Brotzeit und Trinkflasche. Über die Sonnenseite steigt er hoch zum Joch, um dann über den Bergrücken wieder abzusteigen.

Abends wird er es noch einmal tun, in umgekehrter Richtung. „Ein guter Hirte muss wissen, wo das Vieh umgeht“, sagt Håns. Es ist sein siebter Sommer auf der Moarerbergalm und sein 30. als Hirte. Als er mit zwölf Jahren zum ersten Mal Almvieh hütete, hatte er sich geschworen, es nie wieder zu tun, weil das Wetter damals schlecht war. Ein Hirte ist trotzdem aus ihm geworden.

 

130 Schellen zwischen Alm und Joch

Am Vieh hing er schon immer. Jedes Kalb kannte er – an der Art, wie es sich bewegte, und am Klang der Schellen sowieso. Das ist bis heute so geblieben. Einmal, als ein Bauer im Nebel seine Kuh nicht finden konnte, horchte Håns in die Ferne und zeigte ihm die Stelle, an der sie sich aufhielt.

130 Schellen klingen zwischen Alm und Joch hoch und runter, laut und leise, hell und dunkel. Sie gehören Schwarzweißen, Jersey, Sprinzen, Simmenthalern, Blaubelgiern und dem Grauvieh, seinen Lieblingskühen. „Aber als Hirte“, fügt Håns hinzu, „darfst du niemanden bevorzugen, das merken sie nämlich sofort.“ Wenn er zum Vieh geht, zählt er es nie, denn er weiß auch so, ob alle hier sind. Im Frühjahr, wenn sie auf die Alm kommen, um bis Herbst zu bleiben, notiert er sich die Namen der Bauern, die Zahl der Kälber und Jungrinder, mustert alle vom Horn bis zu den Hufen, weil jedes Tier ein besonderes Merkmal hat.

Im Arm hält er Lea, einen drei Monate alten Border Collie. Es ist ihr zweiter Tag auf der Alm. Ein Geschenk vom Moarerbergalm-Team, weil zu jedem Hirten ein Hirtenhund gehört. Seine Hündin, die vor drei Jahren gestorben ist, hieß genauso. Håns vermisst sie. „Ich brauchte nur zu pfeifen, und sie wusste sofort, was zu tun war: stoppen, links laufen, rechts, geradeaus. Sie lenkte das Vieh von allen Seiten herunter. Ohne sie muss ich jeden Schritt selber machen.“

Im Frühsommer hat Håns die Weidefläche mit einem elektrischen Hüterzaun eingegrenzt. Früher, als es noch keinen gab, blieb er den ganzen Tag beim Vieh, weil er nie sicher sein konnte, wo es hinsteigt. Auch heute noch ist ihm der Blick durch das Fernglas zu wenig. „Du musst zum Vieh hingehen, jeden Tag mindestens einmal, um sicher zu sein, dass ihm nichts fehlt.“ Das hat er als Bub von seinem großen Vorbild, einem Hirten im Passeiertal, so gelernt – und von den Kühen selbst. Von ihnen weiß er auch, dass sie immer dem Gras nachgehen, heute da, morgen dort, je nach Wetter. Und dass man mit ihnen „fein sein“ muss, reden, das schafft Vertrauen. „Die kennen dich genau“, sagt Håns. „Bist du aufgeregt, werden auch sie unruhig.“

Auf der anderen Talseite muht eine Graue zu ihm herüber. „Sie sagt, sie sieht mich“, meint Håns. Gestern habe er ihr kein Salz gegeben. Ein- bis zweimal pro Woche leert er es auf Steinplatten aus, und die Kühe lecken es ab. „Das Vieh braucht es, so wie wir das Salz in der Suppe brauchen.“

 

„Das Vieh braucht mich.“

Bei gutem Wetter steigt Håns oft zum Joch hoch. Dort hat er auch die Adlerfeder gefunden, die an seinem Hut steckt. Nach einer solchen Feder hatte er lange gesucht.

Lea wird zappelig. Håns lässt sie los, damit sie an der Leine ein paar Schritte gehen kann. In einem Jahr wird sie die Kühe heruntertreiben. Dass sie einen ähnlichen Charakter hat wie ihre Vorgängerin, hat Håns heute morgen gesehen, als sie instinktiv Hühner und Kälber treiben wollte. Lea wird ihn jeden Tag begleiten, bei Wind und Wetter. „Ein Hirtenhund“, sagt Håns, „sollte nie Angst haben.“ Er zeigt zu einer kleinen Holzhütte. „Da oben bin ich immer, wenn es regnet.“

Einmal saß er einen ganzen Nachmittag dort; es wollte einfach nicht aufhören. Manchmal harrt er unter einem Feldvorsprung aus. „Am schlimmsten ist der Hagel, weil er die Weide zusammenschlägt, das aufgeschreckte Vieh Zäune niederrennt und vorne, am Abhang, hinunterstürzen kann.“ Auf dieser Alm ist das zum Glück noch nie passiert. Zwei Kälber sind aber auf einer Steinplatte ausgerutscht und haben sich das Bein gebrochen. Er erkennt sofort, ob ein Kalb trittsicher ist oder ob es besser ist, es zu einer flachen Weide hinzutreiben. Einmal hat sich Håns selbst den Fuß verstaucht. Er schmierte ihn mit einer guten Salbe ein und verband ihn. Ein, zwei Tage konnte er kaum gehen, humpelte aber doch aufs Joch, denn: „Das Vieh braucht mich.“

In den 30 Sommern ist Hans nur einmal ins Tal abgestiegen. Es gibt „da unten“ nichts, was ihn anzieht. „Ich habe hier alles, was ich brauche: Essen, Trinken, Ruhe.“ Im Winter hilft Håns beim Zimmern, Maurern und bei der Holzarbeit. „Beruf“, sagt Håns, „habe ich keinen gelernt.“ Aber geschickt sei er, und er schaue sich viel von anderen ab. Käsen kann er übrigens auch. 

Abends, nach getaner Arbeit, schaut er mit dem Fernglas ein letztes Mal hoch zum Vieh. Vor ihm – wie sollte es anders sein – ein Liter Milch. Weidemilch, mit Rahmschicht und leichtem Stallgeruch. „Das beste Getränk, das es gibt!“

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130 Schellen zwischen Alm und Joch

Alles was er an Ausrüstung für das Viehüten braucht, sind seine Bergschuhe, einen blauen Schurz und einen Rucksack mit Fernglas, Brotzeit und Trinkflasche. Seine Kontrollgänge legt er mehrmals täglich zurück; früher, als es noch keine elektrischen Hüterzäune gab, blieb er den ganzen Tag beim Vieh.

 

 

„Das Vieh braucht mich“,

 

 

weder Wind und Wetter, noch verstauchte Knöchel halten Hans davon ab, tagtäglich über die Hochalmwiesen zu streifen. Immer an seiner Seite ist dabei Border Collie Lea, denn zu jedem Hirten gehört unteilbar ein treuer Begleiter auf 4 Pfoten, der die Arbeit nebenbei noch um vieles vereinfacht. „Beruf“, sagt Hans, „habe ich keinen gelernt.“ – auch dass er einmal Hirte wird, hat er sich nach seinem ersten Sommer auf der Alm nicht vorgenommen, und trotzdem ist das Leben im Hochgebirge zu seiner Passion geworden und erfüllt ihn vollkommen. „Da unten“, im Tal, gibt es für Hans nichts was ihn anzieht, er bevorzugt die Stille der Berge: Dort hat er seinen Platz gefunden.


„Ich habe hier alles, was ich brauche. Essen, Trinken, Ruhe.“

 

 


 

Fotos: Oskar Zingerle, Brixmedia

Text: Renate Breitenberger

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